"Kinder an die Macht" – so lautete das Motto des diesjährigen literarischen Wettbewerbs am Amtsgericht Leipzig. Zu den mehr als 160 Teilnehmern gehörten auch acht Schülerinnen und Schüler des BIP Kreativitätsgymnasiums, die sich mit teils nachdenklich-kritischen, teils aber auch heiter-ironischen Texten am Wettbewerb beteiligt haben.
Den ersten Preis in der Klassenstufe 9/10 gewann Anne Marie Patzke mit dem Gedicht "Potential". In der Klassenstufe 11/12 erhielt Nadja Deckwerth für ihr Gedicht "Mit Kinderaugen" einen zweiten Preis; Eva Luise Schubert konnte mit ihrer Erzählung "Die Königin" den ersten Preis dieser Altersklasse entgegennehmen. In der vom Amtsgericht herausgegebenen Broschüre sind die besonders lesenswerten Beiträge der Teilnehmer enthalten.
(Dr. Anja Seiffert)
Anne Marie Patzke
Potential
Letztens hörte ich jemanden sagen: Kinder kann man aber auch nicht ernst nehmen.
Und ich frage: wieso nicht?
Ich frage mich,
ob sie nicht genug Fragen stellen.
Nicht genug Rückfragen? Zu wenig Hinterfragen? Vielleicht zu viel
vorschlagen, zu wenig verzagen, zerschlagen, versagen.
Oder Augen nicht strahlend genug? Den Blick auf tausenden Kleinigkeiten, die alle anderen
Generationen unserer Gesellschaft nicht mehr wahrzunehmen scheinen,
weil sie meinen grundsätzlich einfach alles zu verneinen.
Vermutlich sind es nur zu viele Gedanken, zu viel Phantasie,
ich meine: neue Ideen bringen Routinen ins Schwanken.
Und sind wir mal ehrlich, das kann schon Angst einjagend sein,
denn alles, was man nicht kennt, jagt doch immer Angst ein.
Zu klug oder gerade nicht klug genug,
dabei hat doch jedes Kind endlose Neugier, noch mehr Mut,
neue Ideen, neue Chancen, denn unbekannte Wege sind zu gehen.
Ich frage mich,
ist es denn nicht zu hinterfragen, wieso Kinder vernünftige Erwachsene auf die Probleme der Welt aufmerksam machen,
sich an Freitagen versammeln, damit diese über ihre Meinung, ihre Zukunft, die Tatsachen
nicht mehr hinweg debattieren.
Brauchen wir denn nicht neue Prioritäten, mehr Toleranz, bitte Bewusstsein für mehr Nähe und weniger Ignoranz,
doch scheinbar gilt das Interesse nur noch mehr Distanz.
Nur sind Kriege auch von Kindern nicht essbar, sind nur Menschen, sind nur Kinder,
die auch kämpfen, um Spielzeug, Freunde, Macht,
und wenn Objekte sich verändern,
sehen wir, die Wandlung unserer Gesellschaft ist noch lange nicht vollbracht,
denn während Träume schwinden, sind längst Selbstzweifel entfacht.
So fru¨h scheint alles furchtbar einfach, andere Meinungen egal, man lebt, man weint und alles scheint
nach spätestens zehn Minuten endlos lange her, längst vergessen.
Aber nur lang genug abwarten, das Erwartungspäckchen wird schon noch schwer.
Also lasst uns doch alle versuchen, so lange wie möglich Kind zu sein,
ein Stück davon zu bewahren,
vielleicht etwas weniger meckern und schreien.
Dafür Kindern eine Stimme geben, die sie wirklich verdienen,
denn auf dieser Welt sind Millionen von ihnen
gebrochen, beraubt.
Jeder schuldig, der das gleichgültig erkennt, trotzdem erlaubt.
Wir brauchen Bewusstsein für einander, mehr Kreativität.
Wir brauchen mehr Liebe, weniger Urteil.
Ganz einfach das gesamte Gegenteil von heutigem Hass, von aktueller Ausbeutung und
umweltzerstörendem Unheil.
Wir alle brauchen nur dieses Stückchen mehr Mut, das wir doch alle als Kinder hatten, um die Magie wahrzunehmen, die uns doch tagtäglich umgibt.
Nadja Deckwerth
Mit Kinderaugen
Suche Dinosaurierknochen im Garten, spiele chice Dame mit Mamas Hackenschuhen,
dreh dich dreh dich dreh dich bis dir schlecht wird,
bis du nicht mehr atmen kannst und taumelst,
dir die Knie auf der rosa 8 von Himmel und Hölle aufschürfst
und immer mit Kinderaugen
unterschreibe den Vertrag von dem und dem,
800 Millionen hören sich gut an,
halte kurz inne und rieche mal und schau: das ist Staub im 8. Stock
und immer mit Kinderaugen
nimm ihre Hand und zieh sie hoch und bewundere die vermischten Farben von rosa Kreide und rotem Blut, von kristallenen Tränen und dreckigem Dreck
und küss mit Zauber und Sonnenlächeln alles weg
und immer mit Kinderaugen
streiche den warmen Vertrag glatt und löse die Feder im Kuli mit einem sanften Klick,
streiche über die glatte Fensterscheibe, die genauso glatt ist wie außen die Fassade
und genauso glatt wie die Krawattennadel von dem Typen, 800 klingen immer noch gut
und immer mit Kinderaugen
flieh doch vor den scharfen Zähnen des Tyrannosaurus Rex, staune wie die süßen Fältchen sich um den mit Lippenstift übermalten Mund kringeln,
hilf ihr doch auf und dru¨ck sie fest an dich und dreht euch nochmal,
dreht euch nochmal
bevor die Welt schlecht wird
und immer mit Kinderaugen
und lass dir doch den Vertrag von lippenstiftverschmierten Fingerchen aus der Hand reißen,
tausch‘ doch mal die Krawattennadel gegen einen Tyrannosaurus Rex-Zahn,
streiche doch mal über den rauen Asphalt,
reibe richtig und die Finger färben sich rosa
mit Kinderaugen sind 800 so viel und 800 Millionen Fruchtgummis retten Leben,
retten Kinder, die nicht so gut leben wie ich,
lächelte der sommersprossige sich kringelnde kleine Mund,
den zerknu¨llten Vertragsball von Papa in der Hand.
Ihr Recht?
Eva Luise Schubert
Die Königin
Ein abendlicher Bahnhof. Sie sitzt auf einer eiskalten Bank. Die Beine überschlagen, scheint lässig. Theoretisch cool, praktisch jung, und mit rasendem Herzen. Ihre Hände sind dreckig vom Tag, kalt und außerdem fettig vom billigen Schinkenbrötchen, an das inzwischen nur noch Krümel erinnern. Mehl überall auf der Jacke, Haare ungewaschen, Schminke kaum noch vorhanden, Augen schwer, und viel erschöpfter als rational.
Sieh hin, das wird deine Königin
Strahlt sie nicht in Erwartung des Lebens?
Sie lebe hoch, sie lebe lang
Sie ist erbärmlich.
Beruhige dein Herz
Denn bist du noch,
ein Kind, doch,
Bald an der Macht
Ein Wesen der Grenze
Ein Körper im Damals
Ein Geist im Dann
im heißen Bewusstsein, dass, irgendwann
Diese Prinzessin gekrönt werden wird
Ihre steifen, staubigen Finger hämmern auf die bunte Tastatur ein, kämpfen gegen die Autokorrektur. Sie ziehen verschlungene, ölige Schlieren über den Bildschirm. Ihr Arm ist verwickelt im Riemen der schwarzen Umhängetasche, die sie mit einem Ellenbogen an sich drückt. Ein Schutz vor den ach so vielen Dieben, die am späten Nachmittag mitten auf dem Bahnsteig anderen die Taschen entreißen. Ein nervöser Blick auf die Beule darin. Dort ist die Börse. Ein weiterer Blick auf das Ticket, der sechste innerhalb von zehn Minuten. Bin ich hier
richtig? Ist das das richtige Gleis, zur richtigen Zeit? Ist das der richtige Zug?
Ist das der richtige Weg?
Achtzehn Jahre
Achtzehn Jahre
Dann, und dann?
Trügerische Freiheit , Angst
Heißes Leben, kaltes Leben
Rennende Zeit, ein Kind
Bald eine Königin mit zu viel Macht,
Macht, Fehler zu machen
Ein Kind, bald an der Macht
Macht und Pflicht,
Diese Bahnhofsuhr läuft rückwärts.
Sie löst müde ihren Blick davon, während der Zug einfährt. Alle Welt blickt auf, ganz lässig, mit überschlagenen Beinen, alles ganz einfach. Und ich sitze. Auf einer eiskalten Bank, an einem dreckigen Bahnsteig. Mit kalten Händen, mit fettigen Händen, mit hämmerndem Herzen und Mehl auf der Jacke. Denke an Mama, jammere über die Kälte und mich selbst. Ich schreibe schlechte Gedichte auf meinem Smartphone. Erbärmlich.
Es ist in ihrem Blut, mag sein
Doch ist sie zur Herrschaft geboren?
Ist sie doch nur ein Kind
Bald an der Macht, und achtzehn,
Doch auch dann noch ein Kind
Ein Wesen der Grenze
Ein Körper im Damals
Ein Geist im Dann
Und bald frei
Naja, zumindest ein bisschen. Zumindest so sehr, wie andere, größere Mächte es mir und Anderen, Größeren erlauben. Zumindest so lang oder so oft, wie das Leben es erlaubt. Ich mache mir keine Illusionen. Ich bin nicht naiv, was die "große Freiheit" angeht. Andererseits bin ich auch ein stämmiges, kaltes Mädchen mit Mehl auf der Jacke. Was weiß ich schon?
Bin ich doch nur
Ein Kind
Ein Kind an der Grenze
Ein Kind an der Macht
Leben ist, den Zug zu nehmen.
Achtzehn ist die Macht, den Zug zu nehmen
Erwachsen ist die Pflicht, den Zug zu nehmen
Doch sind wir ehrlich
Wir sind alle nur Kinder
Ängstliche Kinder, Kinder
Behütet, und dann achtzehn
Herrscher
Eines Landes mit
Einem einzigen Untertan
Ein Volk, bestehend aus nur Einem
Oh Mann. Nur einem, und ihm ist kalt. Und er neigt zum Selbstmitleid. Schlimmer, zur Pathetik. Er ist ein kleines Mädchen. Er schreibt Gedichte, mit rasendem Herzen. Erbärmlich.
Doch
Dieser eine, er hat gegessen, in bar bezahlt, und die Börse ist da und ungestohlen, denn sie hat die Tasche eng bei sich, in sicherer Verantwortung, trotz der Erschöpfung.
Sie hat einen Platz auf der Bank, hat peinlich viel Mehl auf der Jacke, doch die Jacke ist geschlossen und der Hals mit dem eingesteckten Tuch bedeckt gegen die Kälte.
Die Prinzessin hat ein Ticket
Und diesem nach sitzt sie
Am richtigen Gleis
Mit Würde und Brötchen.
Erhaben.
Der Zug fährt ein, und ich sehe ihm entgegen. Alle anderen stehen auf, richten sich auf, treten auf und von den Bänken weg. Ich sitze noch einen Moment und gähne, die Hand vor dem Mund. Mama, ich glaube, ich komme schon zurecht.
Ein Kind an der Macht
Ein Wesen der Grenze
Ein Körper im Damals
Ein Geist im Dann
Im heißen Bewusstsein, dass, jetzt
Diese Prinzessin gekrönt werden wird
Auf diesem kalten Bahnhofsthron
Trete ich das Erbe meiner Vorfahren an
All der Kinder an der Macht
Menschen, die leben
Wer sagt, dass sie ohne Angst waren?
Ich beende das Gedicht, und zögere kurz. Kurzentschlossen speichere ich es ab. Streiche kurz das Mehl von meiner Jacke, fädle den Arm aus dem Riemen der Tasche, lege ihn mir schräg um die Schulter. Eine schwarze Schärpe. Ich stehe auf. Ich steige in den Zug.
Sieh hin, das ist deine Königin!
Strahlt sie nicht in Erwartung des Lebens?